Hammer und Segen I - Die Architektin und der Priester by Racussa | World Anvil Manuscripts | World Anvil

29. Juli 1957

2939 0 0

Als Johann die Augen öffnete, brummte ihm der Schädel. Er musste sich orientieren: War er in einem Lagerraum? Im Halbdunkel erkannte er fest verzurrte Kisten mit russischer Beschriftung und dem sowjetischen Wappen. Er selbst lag auf einem Stapel von Säcken. Vorsichtig betastete er den rauen Stoff: Der Inhalt der Säcke war sehr weich. Als er versuchte, aufzustehen, konnte er das Gleichgewicht nicht halten und fiel auf die Säcke zurück.

Beim zweiten Mal gelang es ihm schließlich und er hielt Ausschau nach dem Ende der seltsam länglichen Lagerhalle. Plötzlich sah er vom hinteren Ende zwei Uniformierte auf ihn zu kommen. Schnell versuchte er, sich hinter zwei Kisten zu verstecken, doch die beiden schienen ihn schon bemerkt zu haben.

Mit großer Erleichterung nahm er Schachlikows Stimme wahr: „Guten Morgen, Herr Doktor. Ich hoffe, es geht Ihnen inzwischen besser.“ Die beiden waren nun zu seinem Lager gekommen. Schachlikow trug – für Johann überraschend – eine Uniform. Der zweite Uniformierte war Stabswachtmeister Winter, der ebenfalls eine Uniform trug, aber eine thüringische. „Es ist besser, wenn wir uns setzen. Dieses Verbandsmaterial ist zwar nicht die bequemste Unterlage, aber besser als die Holzkisten. Was ist das Letzte, woran Sie sich erinnern können?“

Auf Schachlikows Einladung setzten sich alle Drei auf die Säcke. Johann rieb sich Schläfen, um den Kopfschmerz zu vertreiben. „Ich fühle mich nicht ganz auf der Höhe. Ehrlich gesagt geht es mir noch schlechter als nach diesem unseligen Abenteuer mit der Wasserpfeife. Auch dort konnte ich mich an kaum etwas vom letzten Abend erinnern und war sehr dankbar für Doktor Bodins Kopfschmerztabletten. Könnten wir ihn bitte kontaktieren?“

Winter warf Leonid einen zornigen Blick zu, doch dieser schüttelte nur entrüstet den Kopf. Leonid antwortete sachlich: „Doktor Bodin kann uns hier nicht medizinisch versorgen, aber die Kopfschmerzen werden diesmal von selbst vergehen. Woran erinnern sie sich?“

Johann sprach weiter: „Es ist Sonntag. Für den Nachmittag ist ein Ausflug geplant. Dann ist leider alles Dunkel. Ich kann mir das gar nicht vorstellen. Ich habe sicher nichts getrunken. Ich habe keine Ahnung, wo ich bin.“

In diesem Augenblick kam auch Alexandra, ebenfalls in Uniform, zu der Gruppe und blieb gegenüber den drei Männern stehen. Johanns Blick ging zuerst gerade auf ihre Unterschenkel und wanderte dann zweifelnd aufwärts über Rock, Jacke bis zu Aleksandras Gesicht: War sie eine Soldatin?

Schachlikow übersetzte sofort, was Aleksandra sagte: „Die Unannehmlichkeiten tun mir sehr leid. Aber der Zeitpunkt der Ereignisse hat uns alle überrascht.“

Johanns verschwommener Blick irritierte sie etwas: „Sie haben mich gestern auch schon in Uniform gesehen. Es gab in Moskau einen Putschversuch. Zurzeit versucht die legitime Regierung, die Autorität zurückzugewinnen, aber die Lage in Moskau ist nicht sicher für so spezielle Gäste wie Sie. Da der Anlass für den Putsch die Frage nach dem neuen Umgang mit dem Westen ist, sind Sie für die revoltierende Seite ein lebendes Ärgernis. Wir sind auf dem Weg an einen sicheren Ort.“

Johann verstand immer noch nicht so recht. Stabswachtmeister Winter führte auf Aleksandras Nicken weiter aus: „Da Sie gestern nicht gerade kooperativ waren und die thüringische Uniform, die zu Ihrer Tarnung vorbereitet war, nicht anziehen wollten, musste Frau Doktor Piatnizkaja Ihnen ein Betäubungsmittel injizieren. Wir haben Sie dann umgezogen und zum Flughafen gebracht.“

Nun erst blickte Johann an sich selbst herunter und bemerkte, dass er ebenfalls eine Uniform trug. Sie passte zu Winters Adjustierung. Dieser setzte fort: „Ich sollte als Ihr Begleiter durchgehen; Leonid mimte den Kraftfahrer, Frau Doktor Piatnizkaja bewirkte durch ihr harsches Auftreten in der Generalsuniform den sofortigen Einlass in den Luftwaffenstützpunkt, der aufgrund des Putsches in höchster Alarmbereitschaft war. Auf dem Flughafen wartete eine Maschine, die Sie nach offiziellen Angaben nach Weimar zurückbringen sollte.“

Johann blickte sich erneut um. Das war keine Lagerhalle, das war der Frachtraum eines Flugzeugs. Er war verwundert: „Ich kenne mich zwar mit militärischen Gepflogenheiten nicht so gut aus, aber das sieht nicht wie der Passagierraum eines Flugzeuges aus, in dem ausländische Gäste eigentlich fliegen sollten, oder?“

Aleksandra mischte sich in die Schilderung ein und kürzte sie ab: „Das Flugzeug startete nach Weimar, allerdings waren wir nicht an Bord. Ich war mir sicher, dass man inzwischen Verdacht geschöpft hatte. Mit Hilfe von Genossin Oberstarzt Bogenza haben wir das nächste Flugzeug genommen, das den Flughafen verlassen hat. Während man wohl die Maschine nach Weimar noch über dem sowjetischen Luftraum abgefangen hat, sind wir jetzt in Sicherheit. Wir befinden uns an Bord ein Transportmaschine, die medizinische Unterstützungsgüter zu befreundeten Genossen bringt.“

Johann fragte verwundert: „Wie lange sind wir schon unterwegs? Wo befinden sich diese Freunde?“ Aleksandra antwortete: „Wir sind seit etwa sieben Stunden unterwegs. Da die Zeit drängte, konnten wir nicht wählerisch sein. Der nächste Flieger hatte als Ziel Sansibar; und dort werden wir in zwei Stunden landen. Das Flugzeug transportiert Nahrungsmittel und Verbandsmaterial für die Freiheitskämpfer, die die Insel vom britischen Sklavenjoch befreien wollen. Wir werden uns am Flughafen umziehen und dann ein Hotel in Stonetown beziehen. Danach werden wir abwarten. Es ist aber auf jeden Fall wichtig, dass sie alle das Spiel mitspielen. Ich weiß nicht, welche Nachrichten aus Moskau schon hierher gelangt sind. Wir werden nichts verraten; und vermutlich wissen auch die Leute hier noch nichts, bis der Putsch auf die eine oder andere Weise beendet ist.“

 

Was Aleksandra als „Flughafen“ beschrieben hatte, war nicht mehr als eine eilig asphaltierte Landebahn inmitten von Urwald im Hinterland von Nungwi im Norden der Insel, die gerade lang genug für die große Transportmaschine war. Nachdem die Maschine zum Stillstand gekommen war, wurde die Heckklappe des Flugzeugs geöffnet und ein Schwall heißer, feuchter Luft schlug ihnen entgegen. Vom Flughafengebäude, das nicht mehr als ein hölzerner Schuppen mit Wellblechdach war, kamen einige dunkelhäutige Arbeiter gerannt, die mit dem Entladen des Flugzeugs begannen.

Hinter Aleksandra stiegen auch Johann, Winter und Leonid aus. Das gleißende Licht der Sonne blendete sie. Winter setzte Johann die Uniformmütze auf und stützte ihn, weil er immer noch etwas benommen war.

Als er die vier Uniformierten auf das Flughafengebäude zukommen sah, sprang ein dort faul Herumsitzender eilig auf. Er trug eine schlammgrüne Uniform mit kurzärmligem Hemd, das bis zur Mitte der Brust aufgeknöpft war. Ein neben ihm sitzender Zivilist, der geschlafen hatte, wurde durch das Aufspringen geweckt. Der Uniformierte griff sich eine Kappe und zog den Zivilisten mit sich. Vor Alexandra salutierte er unbeholfen und sprach die Gruppe auf Russisch an: „Genossin Generalmajor, Oberleutnant Lamprin meldet sich als Kommandant des Flugfelds Alpha 5 ohne Vorkommnisse. Wenn ich gewusst hätte, dass Sie uns inspizieren, hätte ich natürlich besondere Vorbereitungen getroffen. Es…“

„Genosse Oberleutnant, wenn ich gewollt hätte, dass besondere Vorkehrungen für meinen Besuch getroffen worden wären, hätte ich Sie das wissen lassen. Das ist eine unangekündigte Kontrolle zur Untersuchung der Effizienz unserer Unterstützung für den sansibarischen Befreiungskampf.“, schnitt ihm Alexandra in scharfem Ton das Wort ab.

Johann war trotz seiner eingeschränkten Wahrnehmung über ihr ungewohntes Auftreten mehr als überrascht. „Ich werde von zwei Genossen aus der Thüringischen Volksrepublik begleitet, die möglicherweise ebenfalls eine Unterstützungsmission in Sansibar starten wird. Der Genosse Major und sein Adjutant sind in unser Vorgehen völlig eingewiesen und haben Zutritt zu allen Sicherheitsbereichen, wobei…“, sie blickte sich um, „ich einmal vermute, dass es hier nicht viel mehr zu sehen gibt. Genosse Oberleutnant, sie werden uns jetzt zur Operationsbasis bringen. Dort erwarte ich angemessene zivile Kleidung, die hier unauffällig genug ist. Wir werden dann in die Hauptstadt fahren. Sie organisieren dort eine Unterbringung. Je weniger Leute von unserer Anwesenheit wissen, desto besser für die Sache.“

Schachlikow hatte ihre Worte leise für Johann und Winter übersetzt. Der Oberleutnant, der noch immer verkrampft vor Aleksandra stramm stand, überlegte kurz. „Genossin Generalmajor, ich bin verpflichtet, Sie nach Ausweis und Auftrag zu fragen, bevor ich Ihnen weitere Informationen geben kann.“

Aleksandra nickte: „Das ist korrekt.“ Mit diesen Worten gab sie ihm ihren Ausweis, den er genau anschaute. Auch Schachlikow gab ihm seinen Ausweis. Winter gab ihm seinen und Johanns gefälschten Thüringischen Pass. „Dass ich keinen schriftlichen Auftrag mit mir führe, wird ihnen wohl verständlich sein. Sollte ich gefangengenommen werden, darf nichts Aufschluss über meinen Auftrag geben. Mein Rang bürgt für meine Glaubwürdigkeit, oder Genosse?“

Der Oberleutnant blickte sie unschlüssig an. Er hatte noch nie direkt mit einem General gesprochen und wusste nicht, ob das eine so vorgesehene Maßnahme war. Möglicherweise war das schon ein Test: Wenn er sie nun durchließe, würde sie ihn bestrafen wegen Fahrlässigkeit. Andererseits, wenn er sie nicht durchließe, würde sie ihn für ungehorsam halten. Und das schien ihm noch schlimmer zu sein. „Genossin Generalmajor, darf ich Ihnen Abeid Karume vorstellen. Er ist unser Verbindungsmann zur Kommunistischen Partei von Sansibar. Sie können sich in englischer Sprache mit ihm unterhalten. Wir können gleich in unsere Operationsbasis fahren.“

Die Gruppe folgte dem Oberleutnant, als zwei Träger eine der Holzkisten fallen ließ. Sie zerbrach auf dem Asphaltboden und gab ein Blick auf den Inhalt preis: Zwischen zahlreichen Verbandspackungen waren dort in einem hölzernen Gestell 10 Gewehre eingespannt. Johann konnte nicht umhin, die Entdeckung zu kommentieren: „So sieht also sowjetische humanitäre Hilfe aus?“

Schachlikow antwortete, während die Gruppe rund um den Schuppen zum wartenden Fahrzeug ging: „Ich werde Ihnen das erklären, sobald wir dafür Zeit haben. Es ist nicht so, wie es vielleicht auf den ersten Blick aussieht. Jetzt ist erst einmal wichtig, dass wir in das Hotel kommen.“

Aleksandra hatte in dem offenen Geländewagen vorne neben dem Oberleutnant Platz genommen. Die übrigen saßen hinten und mussten sich bei der Fahrt über den holprigen Weg kräftig festhalten. Aleksandra genoss den Fahrtwind, der den Schweiß auftrocknete, den ihr Sonne und Luftfeuchtigkeit auf die Haut trieben. Sie hatte hoch gepokert, aber die Rechnung war aufgegangen. Wieso vergaßen Menschen stets ihre instinktive Vorsicht, wenn andere nur mit genügend großem Selbstvertrauen und respekteinflößender Kleidung auftraten?

Durch Leonids Übersetzung hatte Johann einen ungefähren Überblick über die Lage. Da er im Moment nichts anderes tun konnte, als mitzuspielen, verhielt er sich still. Auf eine seltsame Art tröstlich war für ihn, dass auch Stabswachtmeister Winter mit auf diese skurrile Flucht gekommen war. Wie das geschehen konnte, wollte er ihn fragen, wenn niemand dabei wäre. Vieles ging ihm durch den Kopf: Wie konnte er Kontakt mit irgendeiner Stelle aufnehmen, die ihn aus dieser Situation befreite. Ja, er vertraute dem guten Willen Aleksandras, aber was sollte er hier, vor der afrikanischen Ostküste? In einem Land, dass von einem Sultan regiert wurde, der von britischen Gnaden geduldet war? Es würde sicher weder eine österreichische Botschaft noch eine Nuntiatur geben, über die er unter den diplomatischen Schutz der Kirche schlüpfen konnte.

Der freundlich blickende Karume sprach Johann direkt an: „Verstehen Sie Englisch?“

Johann nickte.

Karume schüttelte ihm erfreut die Hand: „Mein Russisch ist nicht so gut, aber ich lerne jeden Tag dazu. Ich freue mich sehr, dass Ihr Land erwägt, uns ebenfalls zu unterstützen: Sehen Sie sich um, dieses prachtvolle Land, dieses Paradies auf Erden ist getränkt vom Blut der Jahrhunderte. Portugiesen, Araber, Briten, alle sind sie gekommen, um unsere Vorfahren zu versklaven und zu verkaufen. Und wen sie hier ließen, der musste arbeiten, bis er tot umfiel. Es ist Zeit, dem ein Ende zu machen. Die Einwohner von Unguja und Pemba müssen frei werden, frei von der britischen Herrschaft und frei von Sultan Abdullah bin Khalifa. Wir werden ein Staat der Gerechtigkeit werden, genug zu essen haben und unsere Nelken an die verkaufen, die dafür einen fairen Preis bezahlen. Dafür brauchen wir jede Unterstützung. Wenn wir auch von Ihrem Land Nahrung und Ausrüstung bekommen, wird Ihnen unser Volk für immer als dankbarer Bruder zur Seite stehen.“ Johann versuchte, wohlwollend zu nicken. Es lag ihm überhaupt nicht, einem fremden Menschen so ins Gesicht zu lügen. Nicht nur konnte er ihm in dieser Sache überhaupt nicht helfen, er würde es auch nicht. Denn Freiheit für die Menschen war nicht durch Waffengewalt zu erzwingen. Und es war auch sicher nicht wünschenswert, wenn nun statt einer britischen oder arabischen eine sowjetische Regierung eingesetzt würde. Konnte Aleksandra wirklich in diese Machenschaften verstrickt sein? Das passte so überhaupt nicht zu all dem, was sie bei ihrer gemeinsamen Lektüre der Texte überlegt hatten?

Winter nahm ihm die Antwort ab: „Der Genosse Major wird sich sehr genau die Bedürfnisse der Partei und der Genossen hier ansehen. Was immer unsere Regierung für Ihre Unterstützung tun kann, werden wir versuchen. Wenn es der Wille des ganzen werktätigen Volkes Ihres Landes ist, unabhängig zu werden, dann wird das auch durch gemeinsame Bemühung geschehen können.

 

Das Hauptquartier war ein großes Landhaus mit Blick auf das Meer, unter dem sich drei Kellergeschoße befanden. Der Oberleutnant stellte Aleksandra die verschiedenen Mitarbeiter vor und erläuterte die Funktionsweise der Funkstation, zeigte auf einer detaillierten Landkarte die einzelnen Waffen- und Ausbildungslager und führte sie zuletzt in einen Aufenthaltsraum, in dem verschiedene Kleidungsstücke aufgelegt waren: „Mit dieser Kleidung werden sie als europäische Touristen durchgehen. Wir werden Ihre Uniformen reinigen und hier aufbewahren, wenn Sie das möchten, damit man Sie bei einer allfälligen Kontrolle in Ihren Hotelzimmern nicht finden kann.“

„Danke, das ist eine sehr gute Idee. Wir werden uns jetzt umziehen, bitte warten sie draußen.“ Der Oberleutnant ging hinaus und schloss die Türe ab. Aleksandra begann sich vor den verdutzten Augen Johanns auszuziehen und aus den aufliegenden Kleidungsstücken Passendes auszuwählen. Als sie bemerkte, das Johann verschämt in eine andere Richtung blickte, ließ sie ihm durch Schachlikow übersetzen: „Ich habe eine vollwertige Ausbildung bei der Armee absolviert. Es macht mir nichts aus, wenn ich mich im selben Raum wie Männer dusche oder umziehe. Und da ich Ihnen Ihre Uniform angezogen habe, brauchen auch Sie sich nicht vor mir zu schämen, ich habe Sie auch schon in Unterwäsche gesehen.“

Schachlikow kicherte bei der Übersetzung des letzten Satzes, was Johann nur noch mehr erröten ließ. Er nahm sich eine lange Leinenhose und ein grauenvoll bunt gemustertes Hemd und stellte sich hinter eine Sitzbank, hinter der er sich nun umzog. Noch während sie die mit großen Blumen bedruckte Bluse fertig zugeknöpft hatte, fuhr Aleksandra fort: „Wir dürfen keine Zeit verlieren: Nach der Einweisung des Kommandanten wird jeden Abend um 23h45 ein verschlüsselter Funkspruch mit einer kurzen Lagemeldung an die russische Botschaft in Addis Abeba geschickt. Normalerweise erhalten sie nur eine Empfangsbestätigung. Ich weiß nicht, inwieweit die Vorgänge in Moskau inzwischen zur Botschaft durchgedrungen sind. Ich habe den Oberleutnant angewiesen, unsere Ankunft nicht an die Botschaft zu melden, weil wir in militärischem Auftrag hier wären. Am Samstag hat er allerdings einen schriftlichen Wochenbericht mit einem Kurier nach Äthiopien zu schicken, der auch alle Besuche mit Zweck und Aufenthaltsdauer – allerdings ohne Nennung der Namen – zu enthalten hat. Das heißt, dass wir möglicherweise ab Sonntag nicht mehr auf die Infrastruktur dieser Einrichtung zurückgreifen können, je nachdem, wie der Konflikt in Moskau ausgeht. Wir werden daher ab morgen nach möglichen Alternativen Ausschau halten.“ Aleksandra betrachtete sich in dem kleinen, an der Wand hängenden Spiegel, überlegte kurz und entfernte dann die Haarnadeln. Ein weiterer Blick in den Spiegel zeigte eine völlig veränderte Frau: Statt des schlichten Grau oder Grün ihrer sonstigen Kleidung eine schreiend bunte Kombination aus Bluse und bodenlangem leichtem Rock, dazu das wallende Haar und – sie griff noch einmal auf den Kleiderstapel zurück – ein großer Strohsonnenhut.

Johann trat nun auch an den Spiegel. Aleksandra musterte ihn lachend: Die etwas enge weiße Leinenhose, dazu das kurzärmlige Hemd, das Johann bis zum obersten Knopf geschlossen hatte und Sandalen. Wie zur Verteidigung sagte Johann: „Es ist zumindest besser als diese Uniform!“

Aleksandra überlegte kurz: „Wenn wir als Touristengruppe durchgehen wollen, dann sollten wir uns nicht mehr mit Dienstgraden oder Titeln ansprechen. Je unauffälliger wir auftreten, desto besser. Ich bin Aleksandra.“

Sie reichte Johann, Leonid und Winter die Hand. Schachlikow stellte sich als Leonid vor und reichte seine Hand zuerst Johann, dann Winter. Dieser erwidert bissig: „Ich weiß. Nun gut, ich bin Thomas!“

Auch Johann stellte sich mit seinem Namen vor.

Aleksandra öffnete die Tür und holte den Oberleutnant zurück. Dieser hatte schon eine gute Nachricht für die Gruppe parat: „In der Hauptstadt gibt es ein Hotel, das einem unserer Genossen gehört. Ich habe dort zwei Doppelzimmer reservieren können. Das Hotel liegt direkt im Zentrum und wird gerne von europäischen Touristen besucht.“ Als Schachlikow fertig übersetzt hatte, ließ Johann ihn nachfragen, warum es Doppelzimmer seien. Der Oberleutnant antwortete: „Es ist in Sansibar nicht möglich, dass eine Frau alleine ein Zimmer bewohnt. Die traditionellen Vorschriften werden hier sehr streng genommen. Sie kann nur mit einer weiblichen Verwandten oder ihrem Ehemann ein Zimmer nehmen.“

Johann hakte ein: „Aber die Genossin Generalmajor ist nicht mit mir verheiratet. Das wird bei der Passkontrolle sofort bemerkt werden.“

Nun strahlte der Oberleutnant über das ganze Gesicht und holte aus seiner Tasche zwei Reisepässe hervor, auf denen das bayerische Wappen prangte, und zwei mit einem hessischen Wappen: „Ich bin auf unsere graphische Abteilung sehr stolz.“

Mit diesen Worten übergab er ihnen die Pässe: „Ein Ehepaar Rotberger aus Landshut, wobei die Gattin Alina in Kaliningrad geboren ist. Und die Brüder Winter aus Fulda. Entspannte Urlaubsgäste in unserem wunderschönen Sansibar. Unser Fahrer John wird Sie nun zum Hotel bringen.“

Aleksandra flüsterte Leonid etwas ins Ohr und folgte dann dem Oberleutnant. Leonid gab das Gesagte an Johann weiter: „Sie hat mir gesagt, dass wir im Hotel natürlich mit Rücksicht auf ihre…nunja…Sorge Zimmer tauschen werden. Sie werden mit Thomas das Zimmer teilen, und ich mit Aleksandra.“

Thomas, der das mitgehört hatte, schaltete sich ein: „Das ist mir auch lieber, Bruderherz!“

Johann, der den bissigen Unterton nicht verstand, nickte erleichtert und folgte dann der Gruppe nach oben.

Der freundlich lächelnde Fahrer stand vor einem mitgenommenen Taxi, das auch schon bessere Tage gesehen hatte: „Hallo, ich bin John, ihr Fahrer. John Okello. Ich bin der beste Taxifahrer auf ganz Unguja!“

 

Vor dem Hotel stieg der Taxifahrer aus und sprach kurz mit einem Angestellten des Hotels, der das Gepäck auszuladen begann. Johann konnte es kaum erwarten, aus dem Taxi auszusteigen. Leonid und Thomas hatten ihn den mittleren Platz auf der Rückbank nehmen lassen. Die holprige Fahrt hindurch hatte es ihn regelmäßig nach rechts oder links geschleudert, bei tiefen Schlaglöchern war er mehrmals mit dem Kopf gegen die Decke des Wagens gekracht. Aleksandra hatte vorne Platz genommen, da, wie Okello erklärte, Frauen nur mit ihrem Ehemann zu zweit auf der Rückbank sitzen dürfte, nicht aber mit einem zweiten Mann. „Zuerst werden wir die Briten und ihre Händler von der Insel vertreiben, dann als nächstes die Araber und ihre gestrigen Moralvorschriften. Dann wird – und ich bin sicher, dass Sie uns bald dazu verhelfen werden – ein neues, freies und fortschrittliches Sansibar erstehen, eine wahrhaft afrikanische Volksrepublik, in der niemand mehr direkt oder indirekt Sklave von Fremden sein muss.“, hatte er als Kommentar dieser Vorschrift angefügt.

Johann fühlte sich dabei in mehrerlei Hinsicht unangenehm: Waren die Briten zwar zumeist nicht katholisch, so hatten sie doch – zumindest nach dem, was er im Studium gelernt hatte – einen gewissen Grad an Zivilisation über viele zurückgebliebene Teile der Welt gebracht. Und hatten sie nicht offiziell die Sklaverei in Sansibar abgeschafft? Und was würde geschehen, wenn die zwar nicht christlichen, aber doch ähnlichen islamischen Moralvorstellung abgeschafft würden: Ein sinnvolle Trennung und Spezialisierung von Männern und Frauen war doch durch die natürliche Grundausstattung vorgegeben? Zeigte sich darin nicht auch der indirekte Wille Gottes? Und ganz abgesehen davon: Wie würden der Sultan des Oman und das osmanische Reich auf die Vertreibung der muslimischen Herrscherdynastie reagieren? Die stundenlange Autofahrt in der feuchten Hitze förderte nicht das Finden einer Antwort.

Schweißnass stieg Johann schließlich aus dem Auto. Die Hitze, die unruhige Fahrt und die vorangegangene Nacht im Flugzeug hatten ihn sehr erschöpft. Doch als die Gruppe durch das enge Tor das Hotel betrat und durch einen dunklen Gang schritt, blieb Johann plötzlich der Atem stehen: Der von Arkaden gesäumte Innenhof war durch ein großes Sonnensegel beschattet. In der Mitte plätscherte ein Brunnen, von dem vier kleine gemauerte Rinnen das Wasser in die vier Himmelsrichtung verteilten. Das fließende Wasser sorgte nicht nur für einen beruhigenden Klang, es schien auch den gesamten Raum zu kühlen. In großen Tonkrügen waren üppig blühende Blumen gepflanzt und verströmten einen sinnlichen Duft. Für einen Augenblick fühlte sich Johann wie in ein Paradies versetzt.

Aleksandra musterte den Raum. Gab es hier irgendein Anzeichen für Wächter oder Beobachter. Einen Hinweis, der die Zugehörigkeit des Hoteldirektors zur revolutionären Bewegung glaubhaft machte?

Vier dunkelhäutige Angestellte reichten der Gruppe Erfrischungstücher, danach ein Glas Tee mit Pfefferminzblättern und einer Prise Kardamom. Es dauert nur kurz, bis der Besitzer des Hotels, ein ebenfalls dunkelhäutiger Mann in weißem Anzug mit weißer Krawatte kam und sie unerwartet herzlich umarmte. „Ich heiße Sie in unserem bescheidenen Haus willkommen. Auch wenn wir uns heute zum ersten Mal begegnen, verheißt Ihr Kommen eine Freundschaft, die für uns große Hoffnungen birgt.“

Aleksandra quittierte mit einer gewissen Zurückhaltung diese verschlüsselte Anspielung mit einem freundlichen Nicken.

Thomas meinte nun: „Die Fahrt war anstrengend. Könnten wir bitte unsere Zimmer beziehen?“

Der Direktor des Hotels nickte eifrig: „Aber natürlich, bitte geben Sie an der Rezeption ihre Pässe ab, das Eintragen in das Registrationsbuch können wir später vor dem Abendessen erledigen. Wir werden die korrekten Daten eintragen, und Sie brauchen dann nur noch zu unterschreiben. Ich habe für Sie unsere schönsten Suiten reserviert, die beide Zugang auf einen herrlichen Balkon mit Blick auf den indischen Ozean gewähren. Herr und Frau Rotberger werden – wie passend – in der roten Suite nächtigen. Das Brüderpaar Winter in der grünen Suite. Beide sind durch ein großzügiges Bad verbunden.“

Alle vier freuten sich nun schon darauf, endlich etwas Ruhe und vor allem eine kühle Dusche genießen zu können. „Wenn es Ihnen recht ist, werden wir in einer Stunde zu Abend essen. Ich freue mich darauf, Sie mit den Genüssen unserer Küche verwöhnen zu dürfen. Ich werde uns den besten Tisch vorbereiten lassen.“

Leonid, der Aleksandras stummen Wink verstanden hatte, wandte sich an den Direktor: „Wir wissen diese Ehre zu schätzen, aber wir würden darum bitten, heute im Zimmer essen zu können. Morgen werden wir aber gerne für ein ausführliches Frühstück mit Ihnen zusammenkommen. Dann sind wir auch sehr interessiert, was Sie uns über dieses herrliche Land und sein Volk erzählen werden.“

Enttäuschung war dem Direktor ins Gesicht geschrieben, aber er fand schnell zu seiner überschäumenden Freundlichkeit zurück: „Das ist selbstverständlich. Ich werde in einer Stunde auf Ihrem Balkon ein kleines Festmahl mit einheimischen Spezialitäten servieren lassen. Morgen früh hole ich Sie dann um acht Uhr vor Ihrem Zimmer ab.“

 

Um kein Misstrauen zu erregen, folgten Aleksandra und Johann dem ersten Angestellten, der einen mit rotem Schlüsselanhänger verzierten Schlüssel trug. Thomas, der sorgfältig von Leonid Abstand hielt, gerade so viel, dass es nicht zu auffällig wurde, folgte mit diesem einem zweiten Angestellten über die ausladende Freitreppe in den ersten Stock.

Die rote Suite hatte ihren Namen von einer rot gemusterten Tapezierung der Räume. Einem großzügigen Wohnzimmer mit niedriger, afrikanischer Sitzgruppe und einer Doppeltüre zu einem Balkon folgte ein weiterer Raum mit Sitzmöbeln und großen Schränken aus schwarzem Holz. Auf dem Tisch fand sich ein üppiges Gesteck. Aleksandra schmunzelte beim Anblick der Blumen: rote Nelken. Der nächste Raum war das Schlafzimmer, an dessen Frontwand das große Doppelbett stand, dass von einem roten Moskitonetz ganz eingehüllt war. Auch die Vorhänge des Raumes waren aus schwerem, rotem Brokat. Erst auf den zweiten Blick erkannte Aleksandra, dass das Muster der Vorhänge aus kunstvoll ineinander verschlungenen Hämmern und Sicheln bestand. Ein oberflächlicher Beobachter würde wohl nur goldene Linien auf rotem Stoff sehen.

Der Hotelangestellte zog die Vorhänge auf und gab den Blick auf ein großes Panoramafenster frei, das Richtung Meer ging. Ein begehbarer Schrank, mit einer zu einer Toilette führenden Tür, bildete die Verbindung zum Bad, in dem eine steinerne Badewanne und zwei marmorne Waschbecken glänzten. „Wir haben verschiedene Badesalze vorbereitet. Wenn Sie es wünschen, können Sie auch eine Massage bekommen.“ meinte der Angestellte in gebrochenem Englisch und deutete auf eine Massagebank, die mit weißen Pölstern belegt war. „Und hinter diesem Paravent befindet sich eine Dusche für den europäischen Geschmack. Ich hoffe, unsere Hochzeitssuite gefällt Ihnen.“

Weil Johann nicht gleich antwortete, ergriff Aleksandra das Wort und sprach den Angestellten in Englisch an: „Oh ja, es ist genauso, wie ich es mir erträumt habe.“

In diesem Augenblick kamen Thomas und Leonid durch die zweite Türe ebenfalls in das Bad. Sie hatten ihren Begleiter schon verabschiedet. Aleksandra nahm aus ihrer Handtasche einen Geldschein und gab ihn dem Hotelangestellten, der sich daraufhin verneigte. „Wir werden das Abendessen in einer Stunde bringen und auf dem Balkon anrichten. Die abendliche Brise wird Ihnen etwas Erfrischung verschaffen.“ Nach diesen Worten verneigte er sich erneut und ging durch die Tür zu Aleksandras und Johanns Zimmer hinaus.

Leonid dreht das Wasser der Dusche auf. Johann war verwundert: „Wollen Sie nicht warten, bis wir das Bad verlassen haben?“

Noch bevor Leonid, der sich die Hand an einem der blütenweißen Leinenhandtüchern abtrocknete, antworten konnte, sprang Thomas ein: „Sollte uns jemand zuhören wollen, wird er durch das Rauschen der Dusche ziemliche Schwierigkeiten bekommen. Ich denke, wir sollten unser Gepäck in den jeweiligen Zimmern lassen. Möglicherweise werden sie durchsucht, wenn wir beim Frühstück sind. Zum Schlafen werden wir dann einfach tauschen.“

 

Mit einer freundlichen Geste deutete Aleksandra, die in ein großes, weißes Handtuch gehüllt war, in Richtung Bad. Johann verstand den Hinweis so, dass das Bad nun für ihn frei zum Duschen wäre. Er hatte für sich schon aus den mitgebrachten Kleidungsstücken ein neues Ensemble zusammengestellt, das er ins Bad mitnahm. Er versicherte sich zweimal, ob die Tür zu seinem und Aleksandras Zimmer abgeschlossen war, und genoss dann eine herrliche kalte Dusche. Das Wasser schien auch seinen Geist zu klären. Er wurde sich der Skurrilität seiner Situation bewusst: Während seine Freunde in Rom glaubten, er sei zu seiner Familie abgereist, so glaubte diese, dass er in Afrika sei. Das stimmte zwar jetzt plötzlich, doch war er nicht in Algerien, sondern an der anderen Seite des Kontinents, auf einer Insel, die für viele Menschen, die er kannte, ein Abbild des Paradieses sein musste. Hier wurde er für einen Vertreter des Kommunismus gehalten, als Freund und verzweifelt ersehnter Helfer begrüßt; und, auch das wurde ihm unter der kalten Dusche bewusst, er teilte zumindest pro Forma das Zimmer mit einer bildhübschen Frau, die sich als seine Ehefrau ausgegeben hatte und deren straffe Brüste Johann nicht mehr aus dem Kopf gingen, seit er sie allzu deutlich durch die leichte Bluse während der Autofahrt betrachtet hatte. Kein Mensch würde ihm das glauben, dem strebsamen Priester aus Niederösterreich. Wie mit einem Schlag wurde ihm bewusst, dass er über all den Ereignissen der letzten vierundzwanzig Stunden nicht gebetet hatte. Er stellte das Wasser der Dusche ab, trocknete sich hektisch mit einem der vorbereiteten Badetücher ab und zog das frische Gewand an, das er mitgenommen hatte. Wie sollte er beten. Er konnte die zahlreichen Texte zwar zum Teil auswendig, aber nicht gut genug, um daraus die vollständige Form des Breviers zu rezitieren. Konnte man sich hier eine Bibel besorgen? Und sei es eine englische. Dann könnte er zumindest Psalmen und biblische Lesungen verwenden. Und wie lange würden sie überhaupt hier bleiben? Hatte Aleksandra etwas von spätestens Samstag gesagt? Würde er dann nach Österreich zurückkehren können? Was würde mit ihr passieren? Könnte sie mitkommen und ihm so die Chance geben, ihr das österreichische Modell zu erklären? Oder müsste sie nach Moskau zurück? Doch das erste war jetzt einmal, irgendwie an eine Bibel zu kommen.

Vorsichtig klopfte er an der Badezimmertür und öffnete sie, als er Aleksandras englische Aufforderung hörte. Sie trug ein bodenlanges, fließendes Plissé-Kleid, dessen Rotton besser zu den Nelken als zu den Vorhängen passte. Die schmalen Träger bedeckten ihre Schultern kaum, und der Stoff schmiegte sich eng an ihre Taille. Johann bemühte sich, ein paar russische Vokabel zusammenzustoppeln und unterstrich seine Worte mit beiden Händen, mit denen er versuchte, ein Buch anzudeuten: „Bitte ein Bibel-Buch. Auch möglich auf Englisch.“

Aleksandra versuchte den Sinn der Worte zu erfassen. Schon wollte Johann seine Frage auf Englisch wiederholen, als sie zu ihrem Schrank ging und aus dem Koffer ein kleines schwarzes Buch zog. Mit einem Lächeln gab sie ihm das Buch und versuchte die Übergabe in deutscher Sprache zu kommentieren: „Mit lieben Grüßen - aus Moskau“.

 

Leonid zog sich das Hemd aus und warf es in den geflochtenen Wäschekorb. Die Hose folgte dem Hemd. Das Zimmer war mit dunkelgrüner Seide tapeziert, das Doppelbett von einem grünen Moskitonetz überspannt, das an vier ebenhölzernen Pfosten montiert war. Die Brokatvorhänge zeigten kleine Halbmonde und goldene Sterne als Muster. Leonid ging durch das nächste Zimmer, in dem arabisch anmutende Vertäfelungen und ein herrliches Spiegelmosaik Wände und Decke zierten, in das Wohnzimmer, dessen Balkontüren weit geöffnet waren und frische Abendluft in den hohen Raum ließen. Das Wohnzimmer war mit grün gemusterten Fliesen in orientalischem Stil geschmückt, An den Wänden standen üppig mit Pölstern belegte Diwane und kleine Teetische mit filigranen Einlegearbeiten. Thomas stand in der offenen Balkontür und drehte sich um, als er Leonid kommen hörte: „Ist das Bad jetzt frei?“

Leonid kam näher und konnte so auch einen Blick auf das ruhige Meer werfen. „Die beiden anderen sind fertig. Willst du zuerst duschen? Oder…“

Thomas dreht sich abrupt um: „Nur das eines klar ist: Ich bin mit auf diese verrückte Reise gekommen, weil ihr mich gezwungen habt. So werde ich das auch vor jeder Kommission sagen, die mich nach meiner Rückkehr zu meiner unerlaubten Abwesenheit befragen wird. Und ich bin mitgekommen, um Johann zu beschützen. Er ist ein guter Mensch, und ich verstehe nicht, was ihr mit ihm vorhabt. Aber ich werde ihn verteidigen, wenn ihr ihm etwas tun wollt.“

Leonid legte seine Hand auf Thomas Schulter: „Niemand hat vor…“

Thomas schüttelte die Hand ab und sprach unbeirrt weiter: „Und nur dass du eines weißt: Ich bin nicht deinetwegen mitgekommen. Und wenn du nur den kleinsten Versuch machst, dich mir noch einmal zu nähern, dann werde ich mich auch dagegen zu wehren wissen. Und versuch jetzt nicht, deine mitleiderregenden Hundeaugen einzusetzen oder zufällig halbnackt herumzurennen. Ich bin gegen deinen Charme immunisiert. Und…“ setzte er noch im Gehen hinzu, „Ich werde zuerst duschen.“

 

Das Abendessen, das von den vier Hotelangestellten auf drei Wagen zum Zimmer gebracht wurde, war ein Fest für Augen, Nase und Gaumen. Behende deckten die vier auf dem Balkon den dort unter einem Sonnensegel stehenden Tisch mit einer weißen Damasttischdecke, legten Besteck und Stoffservietten auf, stellten Gläser und orientalisch gemusterte Teller auf und bauten dann eine aus vier Stockwerken bestehende Étagère mit verschiedenen Vorspeishäppchen auf. Auf vier Rechauds wurden Messingplatten gestellt, auf denen mit Gamba gefüllte Hühnerbrüste in Zitronengras-Curryrahm, gegrilltes Lamm, Kalbsrückensteaks mit Honig-Sesamkruste und ein in Nelkensud gedünsteter Zackenbarsch angerichtet waren. Dazwischen fanden große Schalen mit Safranreis und Fufu Platz, ebenso wie Teller mit frisch aufgeschnittenen Früchten und kleine Glasplatten mit Halwa und Baklawa.

Johann, der seit er die Gebete des vergangenen und dieses Tages nachgeholt hatte von geradezu ausgelassener Fröhlichkeit war, brach als erster das Schweigen: „Ich habe noch nie so buntes Essen gesehen. Und ich habe Hunger, als hätte ich seit Tagen nichts gegessen.

Mit großem Genuss kostete sich die Gruppe durch die verschiedenen Speisen und vergaß für eine Stunde, dass sie aufgrund eines Putsches hierher an das Ende der Welt geflohen waren. Auch die weitere Vorgehensweise war nicht klar. Auf jeden Fall musste man die Nachrichten verfolgen. Sollte bis Freitag kein Signal aus Russland kommen, dass die Putschisten besiegt wären, würde man dieses traumhafte Exil verlassen müssen.

„Es ist spät. Wir sollten jetzt schlafen gehen.“ begann Aleksandra, nachdem alle erschöpft und satt aufgehört hatten zu essen. Wie besprochen wirst du, Johann, zu Thomas ins Zimmer gehen. Und Leonid übernachtet in diesem Zimmer. Morgen um acht Uhr haben wir dann das Frühstück mit dem Direktor des Hotels. Ich werde das Reden übernehmen, weil ich am besten mit den Versorgungsunternehmen unseres Staates vertraut bin. Ich will auch nicht, dass du über Gebühr durch die Darstellung eines kommunistischen Soldaten gefordert wirst.“

Johann wandte sich der neben ihm sitzenden Alexandra zu: „Du hast etwas sehr Großes für mich getan, vielleicht größer, als dir bewusst war. Ich meine damit nicht meine Entführung auf diese paradiesische Insel, die ich sonst nie gesehen hätte. Ich meine deinen Respekt vor meiner religiösen Praxis. Du hast mein Gebetbuch mitgenommen, obwohl du seinen Inhalt und meine daraus resultierende Lebenspraxis ablehnst. Es wird mir morgen nicht schwer fallen, mir die Klagen und die Wünsche des Direktors anzuhören. Und soweit ich meinem Gewissen folgen kann, werde ich versuchen in unser beider Sinn zu antworten. Gute Nacht…“ er stand auf und verneigte sich zum Abschied, „Genossin.“

Thomas stand ebenfalls auf und folgte ihm in das nur von einer fünfflammigen Öllampe erleuchtete Zimmer.

„Leonid, bevor wir uns darüber einigen, wer im Bett und wer auf der Bank schläft, möchte ich noch zwei Dinge sagen: Erstens bedanke ich mich, dass du die Evakuierung von Johann ohne Zögern mitgetragen hast. Ich weiß, dass bei der unklaren Situation eines Putsches jede Loyalität auf die Probe gestellt wird: Gilt sie dem alten oder dem neuen System. Ich weiß, dass dein Gehorsam nicht selbstverständlich war. Wir werden auch in den nächsten Tagen noch genau beobachten müssen, wie sich die Lage entwickelt. Wenn aber die gerechte Seite gewinnt, wirst du für deinen Mut und dein Engagement ausgezeichnet werden.“

Leonid war immer noch befremdet, dass seine Vorgesetzte ihn so vertraut ansprach. Er wollte sich gerade bedanken, als Aleksandra durch eine klare Geste das Wort weiterführte: „Das zweite Anliegen ist etwas heikler, und ich überlege, was unter den gegenwärtigen Umständen die geeignete Form ist, es dir zu sagen. Vorweg, was ich jetzt sage, sage ich nicht als deine Vorgesetzte, sondern als jemand, der dich in den letzten Wochen als fleißigen und kreativen Mitarbeiter erlebt hat.“

Leonid war verwirrt. Wollte Aleksandra ihre Beziehung in eine privatere Richtung lenken? Leonid hätte kein Problem damit gehabt, mit seiner Vorgesetzten zu schlafen; er hatte das schon mit einigen Personen getan, die mehr oder weniger über ihm in der Hierarchie standen. Er würde auch nicht versuchen, daraus einen persönlichen Nutzen zu ziehen. Sollte Aleksandra deshalb Bedenken haben, so müsste er sie zerstreuen, bevor sie etwas sagte, was ihr später vielleicht leidtun würde.

Mit einer raschen Bewegung, die Aleksandra völlig überraschte, ergriff er eine mit Vanillemarzipan gefüllte Mangopraline und schob sie der Verdutzten in den Mund. „Ich weiß was du jetzt sagen möchtest, doch ich möchte zuvor etwas klarstellen. Auch wenn wir miteinander schlafen würden, und es könnte nur einmal sein, wird sich unser dienstliches Verhältnis nicht ändern. Ich werde nicht versuchen, mir dadurch Vorteile zu verschaffen oder deine Zuneigung auszunützen. Aber nach dieser Vorbemerkung brauchst du kein schlechtes Gewissen mehr zu haben, weil ich dein Untergebener bin. Außerdem ist hier niemand, der uns beobachten könnte.“

Aleksandra, die endlich die klebrige Süßigkeit, die trotz allem herrlich schmeckte, zerkaut und geschluckt hatte, versetzte Leonid eine schallende Ohrfeige: „Wie können nur all diese Frauen und Männer auf so plumpe Annäherungsversuche hereinfallen. Ich hatte nicht im Mindesten vor, mit dir zu schlafen. Und zwar nicht nur aus Professionalität, sondern weil du überhaupt nicht mein Typ bist. Dein Privatleben interessiert mich auf weite Strecken nicht, doch eine Beziehung mit einem ausländischen Soldaten wird auf die Dauer nicht unbemerkt bleiben. Und auch wenn ich vermute, dass du klug und beherrscht genug bist, nicht im Rausch der Lust oder unter dem Eindruck von Gefühlen Geheimnisse preiszugeben, so wird doch eine solche Beziehung sicher Schwierigkeiten für deine Zukunft in der Partei und im Ministerium bringen. Das wollte ich nur gesagt haben, und zwar als jemand, der schon viele über wesentlich unwichtigere Probleme hat stolpern sehen.“

Aleksandra stand auf und wandte sich zum Gehen, dreht sich aber um und nahm eine weitere Praline: „Diese werde ich mit mehr Genuss verzehren, denn in Bezug auf Süßigkeiten ist dein Geschmack hervorragend.“

Auch Leonid stand auf und sagte ernst: „Genossin, ich möchte mich für meine Dreistigkeit entschuldigen. Und nur um das Missverständnis zu klären: Ich habe mit Thomas keine Beziehung. Ich habe zwei Mal mit ihm geschlafen, ein drittes Mal hat er gemäß meinen persönlichen Regeln noch offen. Danach werden wir uns nicht mehr in dieser Weise begegnen.“ Aleksandra schüttelte den Kopf und ging hinein.

Please Login in order to comment!