Hammer und Segen I - Die Architektin und der Priester by Racussa | World Anvil Manuscripts | World Anvil

25. April 1957

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Johann wurde bei der Ankunft des Zuges an der österreichisch-italienischen Grenze in Occhiobello durch die Geräusche auf dem Bahnsteig geweckt. Der Zug befand sich, das sagten ihm die zahlreichen italienischen Fahnen, die er durch einen Spalt im Vorhang erkennen konnte, noch in Italien. Er kannte das Procedere zu gut: Zuerst kontrollierten italienische Polizisten die Pässe, dann fragten Zollbeamte nach zu verzollenden Waren. Wer nicht in der Ersten Klasse fuhr, wurde für diese Fragen unsanft aus dem seichten Schlaf gerissen, in den auch die Sitzenden irgendwann aufgrund der Monotonie der Fahrgeräusche fielen. Johann schob den Vorhang etwas mehr beiseite: Die italienischen Beamten verließen den Zug. Verwandte winkten den Eingestiegenen, Angekommene wurden liebevoll in die Arme genommen. Auf ihn würde in Wien niemand warten, dachte Johann, weil seine Familie ihn ja im Süden vermuten musste, wenn sie überhaupt schon Nachricht über die vermeintliche Nordafrika-Reise erhalten hatte.

Langsam setzte sich der Zug in Bewegung, um die Strecke von nicht ganz einem Kilometer über die große Eisenbahnbrücke über den Po bis zum Bahnhof von Occhiobello zurückzulegen, der nun schon mit österreichischen Fahnen und dem vertrauten Doppeladler mit den goldhinterlegten Köpfen grüßte. Österreichische Grenzwachebeamte und Zöllner würden nun dasselbe wie ihre italienischen Kollegen tun, gegebenenfalls illegal eingeschmuggelte Waren beschlagnahmen oder Personen ohne gültigen Pass zum Aussteigen nötigen. Diese würden dann begleitet über die Fußgängerbrücke nach Italien zurückgeführt werden. Johann war das bei seinen letzten Heimatfahrten immer wieder aufgefallen, und er hatte oft darüber nachgedacht, ob das daran lag, dass die italienischen Beamten nicht ausreichend kontrollierten oder ob sie absichtlich einige weiterreisen ließen, nur um die österreichischen Kollegen zu testen oder zu ärgern. Johann schloss den Vorhang wieder, drehte sich auf die andere Seite und schlief weiter.

 

Kurz nach sieben Uhr klopfte es an der Türe, der Schaffner servierte auf einem Tablett das Frühstück: Eine Kanne Tee sowie zwei Kipferl auf einem Teller mit Butter und Marillenmarmelade in zwei Schälchen. Johann wollte das Tablett nehmen, doch der Schaffner meinte förmlich: „Guten Morgen, Hochwürden, es ist nicht üblich, das Tablett selbst zu nehmen. Ich werde anrichten. Wenn sie bitte kurz auf dem Gang warten wollen.“ Johann folgte der Aufforderung und traf auf dem Gang wieder auf Stabswachtmeister Winter.

Er würde nicht den Fehler begehen, der das gestrige Gespräch so abrupt beendet hatte. Bei Militärs war es offenbar nicht angebracht, zu offen zu sprechen. Man sollte – wie bei manchen seiner römischen Professoren – jedes Wort gut abwägen und sich vielleicht eher über Belanglosigkeiten zu zentralen Themen hinarbeiten. „Guten Morgen, Herr Stabswachtmeister. Ich hoffe, Sie haben gut geschlafen.“ Winter, dessen blondes Haar etwas widerspenstig zur Höhe stand, erwiderte freundlich: „Danke, es war sehr bequem.“

Nun ja, dachte Johann, vielleicht war die Frage nicht so geschickt, nachdem er selbst im luxuriösen Abteil allein und ungestört schlafen konnte, während der Unteroffizier mit anderen Personen im Abteil gelegen hatte und möglicherweise noch ein paar Mal bei Nacht den Gang überprüft hatte. „Hoffentlich hat niemand ihrer Abteilkameraden zu laut geschnarcht.“

Nun hellte sich das Gesicht von Winter etwas auf: „Ich bin es gewohnt, in Kasernen mit elf anderen Soldaten in einem Zimmer zu schlafen, daher war die Fahrt im 6er Abteil geradezu still. Ich bitte Sie, mich jetzt zu entschuldigen. Der Herr Oberstleutnant erwartet mich.“ Dabei deutete er auf drei Zeitungen, die er in Händen hielt: „Morgendliche Lektüre. Ich habe sie in Venedig gekauft, als wir vor zwei Stunden dort gehalten haben.“ Nachdem das Klopfen von Winter mit einem „Herein“ beantwortet wurde, trat er in das benachbarte Abteil und schloss die Tür hinter sich.

Inzwischen war auch der Schaffner fertig und bat Johann wieder zurück in das Abteil. Verwundert stellte dieser fest, dass nicht nur ein kleines Tischtuch aufgebreitet und die einzelnen Teile des Frühstücks darauf nett angerichtet waren, auch das Bett war abgebaut und zur Bank zurückverwandelt worden. Der Schaffner schloss die Türe und überließ Johann dem köstlichen Gebäck und dem kräftig duftenden Tee. Johann schmunzelte, als er das etwas derbe, aber so typische Service aus Gmundner Keramik sah. Die Österreichischen Bundesbahnen hatten sich dazu entschlossen, für das Frühstück im Speisewagen und wohl auch in den Abteilen der Ersten Klasse diese oberösterreichische Marke dem zu Mittag und Abend verwendeten Porzellan vorzuziehen.

Johann hatte gerade den letzten Schluck Tee getrunken, als es an seiner Türe klopfte. Auf seine Einladung hin wurde die Türe geöffnet, und Stabswachtmeister Winter trat in den Rahmen der Tür: „Der Herr Oberstleutnant würde sich freuen, wenn Sie um elf Uhr in sein Abteil kämen, damit sie noch etwas Zeit zum Besprechen haben, bevor sie um zwölf Uhr in den Speisewagen zum Mittagessen gehen.“ „Danke für die freundliche Einladung“, meinte Johann, mit einem kecken Augenzwinkern, „In die Sie seinen Befehl verwandelt haben. Werden Sie mit uns essen?“

Winter schüttelte den Kopf: „Das ist nicht vorgesehen. Aber ich habe hier etwas für Sie, das ich ebenfalls in Venedig gekauft habe.“ Mit diesen Worten holte er einen kleinen Riegel Schokolade aus seiner Jacke und reichte sie Johann: „Damit Ihre Konzentration erhalten bleibt.“

 

Johann war verwundert, als er das Abteil Oberstleutnant Bruschecks betrat, weil es doppelt so groß war wie sein eigenes, das ihm schon exquisit erschienen war. In diesem Abteil gab es zusätzlich zu dem kleinen Tisch am Fenster, der Bank und den Kästen noch einen Schreibtisch mit einem Sessel dahinter und einer Bank davor, einer Lampe mit grünem Glasschirm darauf und eine kleine Hausbar, in der sich fünf Spirituosenflaschen befanden, sowie einige passende Gläser in hölzernen Verankerungen, um sie auch bei Erschütterungen nicht umherrutschen zu lassen. Bruscheck, der Johanns Verblüffung wahrnahm, erklärte, während er ihn mit einer Geste zum Sitzen auf der Bank gegenüber dem Schreibtisch aufforderte: „In jedem Schlafwagen der Ersten Klasse gibt es auch ein Diplomatenabteil, das für das Arbeiten etwas aufgerüstet wurde.“ Als wollte er das unterstreichen, legte er einige bedruckte Blätter zusammen, die auf dem Schreibtisch neben den Zeitungen verteilt waren, und setzte sich danach auf den Sessel hinter dem Schreibtisch. „Stabswachtmeister Winter hat mir erzählt, dass Sie an meiner militärischen Laufbahn interessiert sind. Ich hatte gar nicht den Eindruck bei unserem gestrigen Gespräch. Möglicherweise liegt das auch daran, dass ich ihr Vater sein könnte und Sie deshalb mit mir anders reden als mit einem Gleichaltrigen, wenngleich es bei uns sonst nicht üblich ist, mit Unteroffizieren über deren Vorgesetzte zu sprechen.“

War das nun eine Rüge? Warum hatte Winter seinem Kommandanten auch von der Nachfrage erzählt? Johann musste in Zukunft wirklich noch besser aufpassen, mit wem er worüber sprach.

„Ich werde in Lemberg ein Treffen mit dem dortigen Militärpfarrer organisieren, der ihnen etwas Nachhilfeunterricht in militärischen Umgangsformen geben kann. Nicht, dass Sie sich diese Formen angewöhnen müssten, das läge mir fern, aber damit Sie verstehen, wie unser System läuft. Unteroffiziere sind eine wichtige Gruppe, sie setzen Befehle um und organisieren den täglichen Betrieb. Aber es fehlt ihnen der Weitblick des Offiziers, die Kreativität des Kommandanten, der Situationen beurteilen und entsprechend seine Kräfte einsetzen lernt.“

Johann wollte gereizt erwidern, dass da wohl ein gewisser Widerspruch vorlag, denn wenn man sie das tägliche Leben organisieren ließ, dann müssten sie ja doch auch über gewisse Urteilsfähigkeit und „Kreativität“ verfügen, aber es war ihm klar, dass auch der gutwilligste Offizier ihm eine solche Aussage als Beleidigung auslegen müsste.

„Ich verstehe. Und natürlich bin ich sehr dankbar für ihre Mühen, mich in die Hintergründe ihres Berufes einführen zu lassen.“

„Gestern haben Sie mich gefragt, warum ich Soldat geworden sei. Und ich möchte dieser Frage nicht ausweichen, aber die Antworten sind auch nicht so einfach, dass ich sie im Speisewagen vor allen ansprechen möchte. Schon mein Vater, Großvater und Urgroßvater waren Österreichische Offiziere. Mein Ausbildungsweg war daher klar vorgegeben: Nach dem Militärgymnasium besuchte ich die Theresianische Militärakademie und war im Bundesheer der Ersten Republik und des Österreichischen Bundesstaates begeisterter Soldat, der der Meinung war, dass man auch in einer stark verkleinerten Republik am Glanz des Soldatseins, für den meine Vorfahren in der kaiserlichen Armee standen, teilhaben könne. Mit der Besetzung Österreichs 1938 endete mein Traum. Widerwillig, aber doch gehorsam zog ich die österreichische Uniform aus, die deutsche an. Als Panzerartillerist wurde ich zuerst an der Westfront, danach auf dem Balkan, in Albanien und Griechenland eingesetzt. Ich habe nie daran gezweifelt, und tue es auch jetzt nicht, dass der Einsatz militärischer Gewalt einem höheren Ziel dienen kann und daher legitim, ja sogar gefordert ist. Ich habe auch feindliche Soldaten beschießen lassen, und auch selbst getötet, um meinen Auftrag zu erfüllen. Aber die Gewalt gegen Zivilisten, die ich gesehen habe, die Abgründe des Hasses und des Rufes nach Rache, die ich als Letztes aus den stumpfen Augen der Mütter glühen sah, deren Kinder man vor ihren Augen als Partisanen niedergeschossen hatte, diese Gewalt hat mich zu einem Feind meines eigenen Berufes, meiner Kameraden und meines Eides gemacht.“

Johann staunte. Er hatte mit vielem gerechnet, mit ausführlichen Schilderungen der einzelnen Ausbildungsschritte und der Vorzüge der verschiedenen Garnisonen, in denen Bruscheck tätig gewesen war, aber diese klare und offene Rede verwunderte ihn. Hatte Stabswachtmeister Winter seinem Vorgesetzten die Vertrauenswürdigkeit des Priesters genauso bestätigt, wie er gestern abends umgekehrt den Oberstleutnant positiv dargestellt hatte?

Der Oberstleutnant setzte fort: „Anfang 1942, nach einer Stabsbesprechung in ConstanÅ£a, an der ich als Adjutant teilgenommen hatte, wurde ich von meinem Vorgesetzten mit zu einem Treffen mit dem dort stationierten türkischen Konsul genommen. Wie sich später herausstellte, war dieser zugleich ein Mittelsmann zur Roten Armee. Alle weiteren Details sind uninteressant, aber ich fand mich sodann zwar gegen den mir aufgenötigten deutschen Eid aber in vollem Einklang mit dem für mich immer noch gültigen österreichischen Eid auf der Seite derer wieder, die sich die Befreiung und Unabhängigkeit Österreichs zum Ziel gesetzt hatten. Der weitere Verlauf der Geschichte ist ihnen ja sicher bekannt.“

Als ginge es um eine Prüfung während des Geschichtestudiums – wiewohl dort das Ende des Ersten Weltkriegs und die folgenden Friedensverträge das letzte behandelte Ereignis waren – nahm Johann den Ball auf: „Nachdem die Japaner im Juni 1942 Hawaii besetzt hatten, schlossen die USA über sowjetische Vermittlung sofort Frieden mit dem marine- und flugzeugtechnisch überlegenen Kaiserreich. Die frei gewordenen Kräfte konzentrierte man nun in Europa auf die Bekämpfung Deutschlands. Durch massive Unterstützung der Widerstandsbewegungen in den von Deutschland besetzten Gebieten und durch direkte militärische Aktionen. Am 28. Februar 1945 putschte das Militär, Admiral Friedeburg verkündete noch am selben Tag die sofortige und bedingungslose Einstellung aller Kampfhandlungen. Nach erbitterten innerdeutschen Kämpfen gelang am 24. März die Einnahme Nürnbergs. Während die Rote Armee Berlin belagerte, ergriff die Militärregierung Adolf Hitler und sämtliche Minister, die mit ihm Richtung Berchtesgaden geflohen waren, und lieferte sie an die Alliierten aus und harrte der Dinge. Dieser letzte Akt der Selbstbefreiung bewahrte nicht nur Tausende vor weiteren sinnlosen Kämpfen, sie legte auch den Grundstein für die Neuordnung Mitteleuropas. Am 13. April 1945 erklärte Bundespräsident Miklas den aufgezwungenen Anschlussvertrag für nichtig und Österreich für wiederhergestellt. Mit der Eroberung Kölns durch französische Truppen, Hamburgs durch die Briten und der Einnahme Berlins am 9. Mai durch die Sowjetunion endet der Krieg auch in Europa, drei Jahre nach dem Frieden im Pazifik.“

Bruscheck nickte: „Sie haben die Eroberung Münchens durch die US-Amerikaner vergessen. Gerade sie wollten am Ort des berüchtigten Abkommens für den größten Triumph sorgen, doch leider holte die Innenpolitik die Militärs ein. Alle österreichischen Soldaten wurden vor ihrer Wiederaufnahme zum Österreichischen Militär in Hinblick auf ihre Verstrickung in den Nationalsozialismus überprüft. Wenngleich ich zugebe, dass diese Überprüfung bei manchen meiner Kameraden nicht so gründlich ausfiel, wie ich mir das gewünscht hatte. Für mich war jedoch klar, dass ich meinen Beruf als Soldat wieder ausüben wollte. Und diesmal – auch mit Blick auf die Schrecken des Krieges, die ich selbst erlebt hatte – als ein Diener des internationalen Friedens. Und die österreichische Neutralität ist für mich der Maßstab dieses Dienstes. Doch“, meinte der Offizier auf seine Uhr blickend, „es ist Zeit, zum Essen zu gehen. Wir werden im Speisewagen über ein unverfänglicheres Thema sprechen.“

Mit diesen Worten erhob er sich und zog routiniert die Ärmel seiner Uniform zurecht. Johann stand ebenfalls auf und folgte schweigend dem Oberstleutnant in den Speisesaal. Viele Dinge gingen ihm dabei durch den Kopf: Er saß hier mit einem Mann zusammen, der zugleich stolz darauf war, fremde, feindliche Soldaten getötet zu haben und sich größten Gefahren ausgesetzt hatte, weil er die Ermordung von Zivilisten mitangesehen, vielleicht auch mitgemacht hatte. Wie konnte man, ging es Johann durch den Kopf, nur so einen Unterschied zwischen den Menschen machen? Müsste es nicht egal sein, ob jemand Uniform oder Anzug trägt? Er würde soldatisches Denken und diesen Teil des Völkerrechts wohl nie verstehen. Doch das Engagement im Widerstand, wie auch immer es genauer ausgesehen haben mochte, ließ den Militär in Johanns Augen mutiger erscheinen, als er ihn bisher wahrgenommen hatte. Zugleich überlegte er, dass dieser Weg in den Widerstand über sozialistische Wege erfolgt war; etwas, was auch die gemeinsame Reise nach Moskau für ihn in einem neuen Licht erscheinen ließ.

Bruscheck nahm auf Hinweis des betont höflichen Kellners am selben Tisch wie am Vorabend Platz, wies dann aber die Speisekarte zurück: „Hochwürden, heute brauchen Sie nicht so spartanisch zu leben wie gestern Abend. Schließlich haben wir ja Osterzeit! Ich werde für uns beide bestellen, damit Sie Ihr schlechtes Gewissen durch meine Bevormundung beruhigen können.“

Zum Kellner gewandt fügte er hinzu: „Wir nehmen beide das große Tagesmenü.“

Der Kellner nickte aufmerksam und begann aufzuzählen: „Nach einer Frittatensuppe servieren wir heute gefüllte Kalbsbrust mit warmem Erdäpfelsalat und danach ein Stück Linzer Torte. Als Weinbegleitung empfehle ich einen Rosé aus dem Kamptal.“

Der Oberstleutnant nickte begeistert, während Johann aufgrund der bevorstehenden Üppigkeit etwas unsicher wurde.

„Hochwürden, vergessen Sie diese ständigen Nudelgerichte Italiens. Wir sollten den Geschmack der Heimat genießen, solange wir noch können. Die russische Küche wird unseren Mägen und unserer Leber sicher einige Ausdauer abverlangen.“

Johann nickte nun zaghaft: „Danke für die Unterstützung bei der Menüwahl. Statt des Weines werde ich aber Wasser nehmen.“

Pflichtschuldig nickte der Kellner, was Bruscheck zu einem Witz ermunterte: „Hoffentlich ist das Wasser nicht auch aus dem Kamp!“

 

Als der Zug endlich in Wien angekommen war, warteten schon ein Hauptmann und zwei Unteroffiziere auf dem Bahnsteig, um Oberstleutnant Bruscheck abzuholen. Der Hauptmann salutierte: „Herr Oberstleutnant, Hauptmann Altmann meldet sich als eingeteilter Begleitoffizier. Herzlich willkommen in Wien!“

Bruscheck nickt gefällig: „Danke, Herr Hauptmann. Sie werden mich zuerst zur Stiftskaserne bringen und dann Hochwürden Erath in das Priesterseminar.“ Auf einen Wink des Hauptmanns übernahmen die beiden Unteroffiziere, die Stabswachtmeister Winter nur durch ein kaum merkliches Nicken gegrüßt hatten, das Gepäck.

„Herr Oberstleutnant, wir sind mit zwei Wagen gekommen, um Ihren Gast zeitgleich zu seiner Unterkunft bringen zu können. Wir haben dann schon auf der Fahrt Zeit, dass ich Ihnen erste Erläuterungen zur neuen Lage gebe.“

Das Folgende ließ Johann seine Meinung über Bruscheck, der ihm im Lauf der Reise in gewisser Hinsicht immer sympathischer geworden war, neu überdenken. Sein militärischer Reisegefährte fuhr den ihn abholenden Offizier mit einer ungewohnten Schärfe an: „Wie kommen Sie dazu, selbstständig meine Reiseplanung zu ändern. Für wen halten Sie sich?“

Noch mehr erstaunte Johann, der in ähnlicher Situation wohl kleinlaut nach einer Ausrede für sein gut gemeintes Entgegenkommen gesucht hätte, die Reaktion des Hauptmanns. Dieser straffte nur kurz seinen Körper und erwiderte ohne jede Emotion: „Herr Oberstleutnant, Sie vergessen, wo Sie sich hier befinden. Wien ist nicht mit Ihrer netten Heimatgarnison Pinkafeld zu vergleichen. Sie werden gemeinsam mit mir zur Stiftskaserne fahren, und während der Fahrt werde ich Ihnen die mir aufgetragenen Informationen geben. So hat es unser gemeinsamer Kommandant festgelegt. Hochwürden Erath wird wohlbehalten in seine Unterkunft gebracht, Stabswachtmeister Winter wird ihn auf der Fahrt begleiten, danach ebenfalls zur Stiftskaserne gebracht werden und dort, wenn Sie es wünschen, zu Ihrer Verfügung stehen.“ Ohne den verdutzten Oberstleutnant eines weiteren Blickes zu würdigen, wandte sich Altmann nun an Johann: „Verzeihung, Hochwürden, dass ich in Ihrer Gegenwart über Sie gesprochen habe. Ich heiße Sie in Wien willkommen, aber die Stadt ist Ihnen ja aufgrund Ihres Studiums hinlänglich bekannt. Sie werden morgen um neun Uhr abgeholt werden.“

Inzwischen hatte Bruscheck sich so weit gefasst, dass er bemüht entspannt wieder in das Gespräch einstieg: „Ich brauche Stabswachtmeister Winter heute nicht mehr, er steht Ihnen für heute abends zur Verfügung. Herr Hauptmann, ich bin schon sehr gespannt auf die Informationen.“ Mit diesen Worten reichte er Johann die Hand und wandte sich dann um. Schnellen Schrittes verließen er und Hauptmann Altmann den Bahnsteig, während Stabswachtmeister Winter und Johann langsam denselben Weg einschlugen.

Als die beiden Offiziere weit genug entfernt waren, fragte Johann: „Ich kenne mich nicht ganz aus. Der Offizier, der uns hier begrüßt hat, steht doch im Rang unter Oberstleutnant Bruscheck. Warum kann er ihm dann Befehle erteilen?“

Winter antwortete, während sie begannen die großen Stiegen hinunter Richtung Bahnhofshalle zu steigen: „Die Einteilung der Offiziere nach Dienstgraden ist eine Sache, davon zu unterscheiden sind die Funktionen, die sie ausführen. Es kann also durchaus vorkommen, dass ein Soldat mit niedrigerem Dienstgrad einem mit höherem Dienstgrad Befehle erteilt, wenn es seiner Funktion zukommt. So etwas vermeidet man tunlichst, aber gerade im Umgang mit den vorgesetzten Dienststellen in der Bundeshauptstadt gibt es hier oft sehr ernüchternde Begegnungen. Es tut mir leid, dass sie jetzt Zeuge dieser unschönen Szene geworden sind.“

Inzwischen hatten sie die für Johanns Geschmack fast zu üppige Bahnhofshalle erreicht, die jeden ankommenden Reisenden gleich auf die große Geschichte Österreichs stieß. Interessant, dachte er, dass das Königreich Italien seinen Hauptbahnhof in Rom in modernstem Stil errichten ließ, während der fortschrittliche Bundesstaat Österreich seine Gäste mit dem historistischen Flair des neunzehnten Jahrhunderts begrüßte. „Für mich sind diese Verhaltensweisen einfach nur interessant; ich habe keinen Bezug zu dieser Welt und lerne jeden Tag Neues dazu. Deshalb fand ich es auch gar nicht schlimm, diese relativ subtil geführte Auseinandersetzung mitzuerleben.“, meinte Johann, als die beiden nun durch das Portal des Ankunftsbereichs unter die Arkaden traten. Stabswachtmeister Winter deutete auf das vordere Ende der Arkaden: „Dort vorne steht unser Wagen. Die beiden Herren Offiziere sind wohl schon unterwegs.“ Johann richtete seinen Blick nach vorne, folgte aber dann eher den Schritten von Winter, weil er kein spezielles Heeresfahrzeug ausmachen konnte.

Als das dunkelblaue Auto von einem der beiden Unteroffiziere, die sie am Bahnsteig erwartet hatten, gestartet wurde, wandte Johann sich an Winter, der auf dem Vordersitz Platz genommen hatte: „Haben Sie schon etwas vor? Was werden Sie in Wien machen heute abends?“

Der Fahrer des Wagens schmunzelte wissend und gab Stabswachtmeister Winter einen leichten Stoß mit seinem Ellbogen. Dieser schüttelte genervt den Kopf, um die plumpe Andeutung seines Kameraden, er werde den Abend zum Besuch eines Bordells nutzen, abzuwehren: „Ich habe keine konkreten Pläne.“

 

Tosender Applaus wogte zehn Minuten nach der Vorstellung noch durch den prächtigen Zuschauerraum der Burgoper, als Johann und Winter schließlich ihre Stehplätze verließen und über das Stiegenhaus nach unten gingen. Johann hatte Schweißperlen auf der Stirn und atmete flach und schnell: „Was sagen sie? Großartig, oder?“ Stabswachtmeister Winter, der nur aus Höflichkeit und ein klein wenig Neugier auf den Innenraum des imposanten Gebäudes die Einladung angenommen hatte, mit Johann in die Oper zu gehen, erkannte den sonst so selbstbeherrschten Priester kaum wieder: „Naja, ich habe nur wenig davon verstanden, es gab einen Haufen Speere und Schilde, ein Schwert und ziemlich viel Gesang.“

Johann hob ungläubig die Schultern: „So hat noch niemand die Walküre zusammengefasst! Waren Sie denn nicht gerührt, als Siegmund und Sieglinde im Vertrauen auf ihre unsterbliche Liebe die aussichtslose Flucht aus Hundings Haus wagten? Oder als Wotan seine Tochter entgöttlicht und schlafend auf dem Brünhildenfelsen zurückließ?“

Inzwischen hatten sie den Gehsteig vor der Oper erreicht und wandten ihre Schritte entlang der Ringstraße Richtung Johanns Unterkunft. Winter zögerte mit seiner Antwort: „Naja, vielleicht können Sie mir die Handlung ja während der nächsten Zugfahrt erklären; Zeit genug ist dann ja.“, er zögerte einen Moment, als überlegte er, ob es unangemessen war, die Frage zu stellen, „Aber was mich doch brennend interessiert: Wie können Sie sich für so heidnische Erzählungen interessieren? Noch dazu wo da fremde Göttinnen und Götter auftreten?“

Die Schnelligkeit, mit der Johann antwortete, zeugte von der Routine in der Beantwortung der Frage, die ihm schon so viele gestellt hatten: „Ich verstehe die Oper ja nicht als Götzendienst an den dargestellten Figuren. Und sicher hat auch Richard Wagner beim Komponieren nicht ernsthaft an die reale Existenz dieser göttlichen Wesen geglaubt. Sie stehen hier viel mehr für überkommene Mächte, die dem Wandel zu einer neuen Gesellschaft, den sie zum Teil sogar selbst herbeisehnen, im Weg stehen.“ Winter versuchte, verständig zu nicken, aber da er schon von den Texten kaum etwas verstanden hatte, fiel ihm eine symbolische Deutung noch schwerer.

Am Kunsthistorischen Museum verabschiedete sich Winter von Johann und bog dann Richtung Stiftskaserne ab. Johann ging, immer noch mit den gewaltigen Klängen der Oper im Kopf, zu seiner Unterkunft durch das nächtlich stille Wien. Die unbändige Kraft der Emotionen, wie die Sängerinnen und Sänger sie voller Leidenschaft, aber auch mit mühsam einstudierter Technik, auf der Bühne auslebten, faszinierte ihn. Dieses rückhaltlose Aufgehen in dem, was man als das Richtige erkannt hatte, sprach ihn zugleich an und ängstigte ihn, der stets bemüht war, seine Gedanken und vor allem seine Gefühle unter striktester Kontrolle zu halten. Die Oper, die er auch während seines Studiums häufig besucht hatte, war genau jenes Maß an kanalisiertem Rausch, das er sich gerade noch zutraute. War es einfacher Zufall gewesen, dass heute gerade dieses Stück gespielt wurde?

Könnte ich gleich der Walküre gegen einen direkten Befehl meines Vorgesetzten handeln, um das Ziel zu erreichen, von dem ich meine, dass es auch in seinem eigentlichen Sinn liegt?

Johann verscheuchte den unpassenden Gedanken angesichts der bevorstehenden Reise in ein kommunistisches Land, von dem er wenig mehr wusste, als dass dort Priester in Arbeitslagern gefangen gehalten wurden und die Kirchen all ihrer Mittel beraubt wurden. Natürlich, als Österreicher war er der Sowjetunion zu großem Dank verpflichtet, war doch vor allem sie es, die auf die Wiederherstellung des selbstständigen Staates gedrungen hatte. Und ohne ihre Unterstützung wäre es auch den neuen Bundesländern nie möglich gewesen, sich unter Aufsicht der Vereinten Nationen dem Österreichischen Bundesstaat anzuschließen. Aber dieses Vorgehen war klarem politischen Kalkül entsprungen: Ein breiter neutraler Riegel quer durch Europa sollte ein neuerliches Zusammengehen von Italien und den deutschen Staaten verhindern.

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